Hagleitner: Sehr geehrter Herr Pittet, wie viel Menschenleben rettet Händehygiene jedes Jahr weltweit? Trauen Sie sich eine Schätzung zu? Angenommen, Händehygiene passiert konsequent und überall auf der Welt: Welches Potenzial ergibt sich?
Didier Pittet: Händehygiene rettet Leben: Millionen. Laut Einschätzung der WHO und unseren Erfahrungen kann Händehygiene bis zu 50 Prozent der Krankenhausinfektionen abwenden. Diese Infektionen sind jedes Jahr für Millionen Todesfälle verantwortlich, speziell in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Konservative globale Schätzungen sagen: Jedes Jahr werden fünf bis acht Millionen Menschenleben durch effektive Händehygiene gerettet.
Dabei ist das Potenzial wesentlich größer. Würde jede Gesundheitseinrichtung auf der Welt Händehygiene als Basis vor Ort implementieren, könnten jährlich Millionen weiterer Leben gerettet werden – insbesondere von Müttern, Neugeborenen und schwer kranken Patient:innen. Diese Basis fehlt oft noch in einkommensschwachen Gebieten der Welt – mindestens bei der Hälfte der Einrichtungen. Wie ich vor einigen Jahren gesagt habe: "Händehygiene dauert 20 Sekunden und in diesen Sekunden können Sie die Ausbreitung des Todes bannen."
Hagleitner: Wie funktioniert Händehygiene richtig? Gibt es im Gesundheitswesen verpflichtende Standards? Was genau muss ich machen, wenn ich jemanden im Krankenhaus besuche?
Pittet: Der Goldstandard für Händehygiene im Gesundheitswesen ist die alkoholbasierte Händedesinfektion. Sie ist schnell, wirksam und deutlich effektiver als Seife und Wasser gegen die meisten Keime – samt denen, die tödliche Krankenhausinfektionen verursachen. "Meine fünf Momente der Händehygiene" heißt das Framework der Weltgesundheitsorganisation, es ist der international anerkannte Standard, der weltweit in Krankenhäusern verwendet wird. Dieser definiert genau, wann medizinisches Personal und Besucher:innen Händehygiene praktizieren sollten, um Patient:innen und sich selbst zu schützen.
Für Besucher:innen ist es simpel, aber entscheidend: Reiben Sie Ihre Hände mit alkoholbasiertem Desinfektionsmittel ein, bevor Sie Kontakt zum:zur Patienten:in haben und wenn Sie das Zimmer verlassen. Dieser Zeitpunkt ist jeweils entscheidend, um Folgendes zu verhindern: Dass Keime in die Umgebung des:der Patienten:in gelangen oder von dort aus verbreitet werden. Seife und Wasser braucht es nur, wenn die Hände sichtbar verschmutzt sind. Wer als Besucher:in diese Basisroutine einhält, wird Teil des Sicherheitssystems – und hilft mit, das Problem zu lösen.
Hagleitner: Sollten Menschen auch privat die Händehygiene ernster nehmen – etwa auf Reisen? Reicht es privat aus, sich die Hände zu waschen? Oder gibt es genauso Situationen, in denen ausdrücklich Desinfektion nottut?
Pittet: Ja, im Privatleben gilt es, Händehygiene genauso ernst zu nehmen – besonders auf Reisen, an belebten Orten und bei Infektionsausbrüchen. Seife und Wasser bleiben der Standard für zu Hause, um sich regelmäßig die Hände zu waschen (zumal vor dem Essen und nach der Toilette). Gleichzeitig empfiehlt es sich, in vielen Situationen, alkoholbasiertes Desinfektionsmittel zu verwenden – wenn es etwa am Zugang zu sauberem Wasser mangelt, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf Flughäfen.
Die WHO und Gesundheitsexpert:innen raten tatsächlich dazu, unterwegs ein Desinfektionsmittel mit sich zu führen; alkoholbasierte Händedesinfektion ist in bestimmten Kontexten ausdrücklich angeregt: bevor Sie Ihr Gesicht anfassen, nach dem Kontakt mit gemeinsam genutzten Oberflächen (wie Türklinken, Touchscreens oder Geld) sowie speziell bei der Krankenpflege zu Hause.
Kurzum: Zu Hause reichen Seife und Wasser für gewöhnlich aus, aber unterwegs ist das alkoholbasierte Händedesinfektionsmittel Ihr bester Schutz.
Hagleitner: Zurück zum Gesundheitswesen: Was sind derzeit die größten Herausforderungen, um vor Infektionen zu schützen? Was kann besser werden? Wie lautet Ihr Appell? Lautet dieser Appell für jede Gegend gleich oder gibt es Unterschiede, etwa zwischen Mitteleuropa und dem Rest der Welt?
Pittet: Zu den wichtigsten Herausforderungen in der Infektionsprävention gehört heutzutage, Basismaßnahmen wie Händehygiene überall konsequent zu implementieren – von Hightech-Krankenhäusern in Europa bis zu schlecht versorgten Kliniken rund um den Globus. Die Instrumente existieren, Evidenz ist vorhanden. Dennoch untergraben Lücken in puncto Ausbildung, Personal, Infrastruktur und Mitarbeiterführung oft das Weiterkommen. Laut WHO-Daten hapert es in fast jeder zweiten Gesundheitseinrichtung mit der Händehygiene.
In Mitteleuropa sind oft Compliance und Kultur das Thema, in einkommensschwächeren Gebieten hingegen geht es eher um den Zugang und die Ressourcen. Mein Appell? Verankern wir die Infektionsprävention und die Infektionskontrolle fest in den Institutionen und priorisieren wir beides dort auch entsprechend – mit der richtigen Mitarbeiterführung, den richtigen Investitionen und dem richtigen Verantwortungsbewusstsein auf allen Ebenen. Denn jede:r Patient:in verdient überall, sicher versorgt zu sein – und vermeidbare Infektionen sollen niemals passieren.
Hagleitner: Die Klimakrise ist global betrachtet eine der größten Aufgaben unserer Zeit. Beeinflusst sie auch die Infektionszahlen? Entwickeln sich neue Risiken, worauf gilt es zu achten und wogegen muss sich das Gesundheitswesen wappnen?
Pittet: Ja, die Klimakrise formt die globale Landschaft im Infektionsgeschehen bereits neu. Steigende Temperaturen, extreme Wetterereignisse und sich verändernde Ökosysteme weiten die Verbreitung von Krankheiten aus, welche durch Vektoren übertragen werden. Denguefieber, Malaria und Chikungunyafieber gehören zu solchen Krankheiten; sie können neue Regionen erreichen – auch Teile Europas. Überschwemmungen und Dürren beeinträchtigen außerdem die Sanitärversorgung und den Zugang zu sauberem Wasser. Dies wiederum erhöht das Risiko auf Infektionen, welche durch Wasser übertragen werden. Hinzu kommt das Risiko antimikrobieller Resistenz – sowie das Risiko, dass Krankheiten bei vulnerablen Personengruppen ausbrechen.
Worauf sollen wir uns vorbereiten? Auf eine Welt, in der Krankheiten häufiger ausbrechen. Auf eine Welt, in der Ausbrüche weniger vorhersehbar und schwerer zu kontrollieren sind. Das gilt speziell in Regionen mit schwachem Gesundheitssystem. Infektionsprävention muss heute Klima-Resilienz mit einbeziehen: bessere Überwachung, schnelle Reaktionsfähigkeit, eine solide Wasser- und Hygieneinfrastruktur sowie eine Gesundheitsversorgung, die anpassungsfähig bleibt. Die Botschaft lautet: Wer Infektionen im Zeitalter des Klimawandels bekämpfen will, muss über Mikroben hinausdenken – und sich auf die Stürme vorbereiten, die sie übertragen.
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